„Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“

Dokumentiert: Die Rede von Jens Rüggeberg vom Friedensplenum/Antikriegsbündnis Tübingen auf der Antikriegskundgebung in Tübingen am 1.4.2022:

“Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter andern Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.”

Mit diesem Zitat aus dem Roman „Kassandra“ von Christa Wolf beendeten wir unsere Antikriegskundgebung hier an diesem Ort am 19. Februar, der letzten vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. „Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“ Mit jedem Tag, den der Krieg dauert, mit jedem Tag, an dem wir über die Medien mit den furchtbaren Schrecken des Krieges konfrontiert werden, wird es schwieriger, sich nicht von den Eigenen täuschen zu lassen. Denn Russland hat letztlich die Ursachen für den jetzigen Schrecken gesetzt, indem es die Ukraine überfiel.

„Der Kriegswirtschaftsminister“ - so bezeichnet heute "Spiegel online" den Minister Habeck. Der müsse jetzt in Kriegszeiten dafür sorgen, dass Deutschland die Energie nicht ausgeht. Die Situation ist wirklich dramatisch: Ganze Industriezweige drohen zusammenzubrechen, wenn aus Russland kein Erdgas mehr kommt, allen voran die chemische Industrie, dann die Automobilindustrie. Nicht einmal die Versorgung der Menschen in unserem Lande mit Heizenergie ist gesichert. Wäre es nicht besser gewesen, im Vorfeld des jetzigen Krieges alles zu versuchen, auf dem Verhandlungswege, durch Diplomatie, diesen furchtbaren Krieg zu verhindern? Ganz sicher wäre das möglich gewesen. (1)

Stattdessen die Konfrontation, die Eskalation, der russische Truppenaufmarsch, die US-amerikanischen und westeuropäischen Drohungen gegen Russland, die kompromisslose Haltung der ukrainischen Regierung. Jetzt ist die Ukraine weitgehend zerstört, Millionen Menschen sind auf der Flucht (und wenn ich uns hier auf dem Holzmarkt in der Kälte frieren sehe, mag ich gar nicht an die Menschen denken, die seit Tagen und Wochen auf der Flucht sind), Tausende sind gestorben. Der Hass hat sich in die Seelen eingebrannt. Für Generationen. Und unsere Regierung: Die Außenministerin Baerbock hofft, jetzt auch noch Russland durch Sanktionen zu ruinieren. Als ob es nicht schon durch den Krieg ruiniert würde.

Der Krieg muss beendet werden. Sofort. Den Beteiligten muss die Möglichkeit gegeben werden, aus dem Krieg auszusteigen, und zwar gesichtswahrend, der Ukraine, die den Krieg nicht gewinnen kann, und Russland, das ihn auch nicht gewinnen kann. Die Bundesregierung darf nicht weiter an der Eskalationsschraube drehen, was im Zweifel auch der hiesigen Bevölkerung schadet (Finanzminister Lindner hat bereits den schon lange geplanten Zuschuss an die Rentenversicherung in Höhe von 500 Millionen Euro gestrichen, und das heißt: Ab 2024 sind die Renten nicht mehr sicher - 500 Millionen, das sind genau 0,5 Prozent des "Sondervermögens" von 100 Milliarden Euro, mit dem Deutschland hochgerüstet werden soll!), die Bundesregierung darf nicht Öl ins Feuer gießen, indem sie Waffen ins Kriegsgebiet liefert - Keine Waffenlieferungen an die Ukraine! -, sondern sie muss auf Verhandlungen setzen, sie fordern, Friedensverhandlungen jetzt!

Zum Abschluss möchte ich ein Gedicht eines ukrainischen Dichters vortragen, ein Gedicht über den Krieg von Serhij Zhadan, der zwar viele unserer politischen Auffassungen nicht teilt, uns aber als Dichter durchaus etwas zu sagen hat. Das Gedicht ist es wert, hier vorgetragen zu werden, es ist ein Antikriegsgedicht, heißt "Der Irre" und stammt aus dem Buch "Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg", das 2016 bei Suhrkamp auf Deutsch erschien - damals war nämlich bereits Krieg in der Ukraine.

Das Gedicht steht auf Seite 24 f. des Bandes:

https://www.suhrkamp.de/buch/serhij-zhadan-warum-ich-nicht-im-netz-bin-t-9783518072875

Nachträgliche Anmerkung:

(1) Diese Einschätzung des Redners wurde einem Bericht der "jungen Welt" vom 4.4.2022 zufolge genau einen Tag nach dessen Rede bestätigt. Zitat aus dem Bericht:

"Nach einem Artikel des in New York erscheinenden Wall Street Journal vom Samstag hätte der Ukraine-Krieg bis zur letzten Minute vermieden werden können. Ausschlaggebend für die russische Entscheidung zum Angriff sei die Weigerung Wolodimir Selenskijs gewesen, auf die Option eines NATO-Beitritts zu verzichten. Selenskij habe dies fünf Tage vor Kriegsbeginn gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz auf einen entsprechenden Vorschlag von dessen Seite hin erklärt. Danach habe der russische Präsident Wladimir Putin ein im Prinzip schon vereinbartes Gipfeltreffen mit US-Präsident Joseph Biden kurzfristig wieder abgesagt und am selben Tag die »Volksrepubliken« im Donbass diplomatisch anerkannt. Der Beitrag stützt sich auf Aussagen vor allem europäischer Diplomaten."

https://www.jungewelt.de/artikel/423897.krieg-in-der-ukraine-greuelbilder-und-strafen.html

Der Artikel des "Wall Street Journal", auf den sich die "junge Welt" vermutlich bezieht, liegt leider hinter einer Bezahlschranke:

https://www.wsj.com/articles/vladimir-putins-20-year-march-to-war-in-ukraineand-how-the-west-mishandled-it-11648826461
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