Afghanistan und die deutsche flüchtlingspolitik: Seehofer darf sich nicht wiederholen!

Dokumentiert: Der Beitrag von move on – menschen.rechte Tübingen e.V. und Bündnis Bleiberecht (Tübingen) auf der Tübinger Kundgebung zum Antikriegstag am 1. September 2021:

Mit dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan wurde der längste und teuerste Krieg aller Zeiten gestern von US-Präsident Biden für beendet erklärt. Ist das nicht eine gute Nachricht zum Antikriegstag 2021?

Nein, es ist keine gute Nachricht. Denn ich wage hier die Prognose: Dieser Krieg ist noch längst nicht zu Ende. Er wird weitergehen. Denn es sind Hunderttausende, die der Westen jetzt nach dem überhasteten Abzug im Stich lässt. Er überlässt sie einer islamistischen Mörderbande, die die USA in den 90er Jahren selbst hochgezüchtet und bis an die Zähne bewaffnet hat.

Das Desaster in Afghanistan ist ein militärischer, politischer und moralischer Bankrott für die gesamte westliche Welt: Man könnte und müsste hierzu sehr viel sagen, ich werde mich im Rahmen meiner 5 Minuten aber darauf beschränken, ein paar Takte aus flüchtlingspolitischer Sicht zu sagen.

40 Jahre lang haben zuerst die Sowjetunion und danach die USA und die NATO in Afghanistan Fluchtursachen produziert. Die größte Sorge der politischen Klasse, die die Europäische Union und Deutschland regieren, ist aber bereits wieder, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. Fluchtursachen produzieren und dann Flüchtlinge bekämpfen – ist das alles, was unsere Regierungen können? Gestern vereinbarten die Innenminister der EU, dass die Europäische Union kein Aufnahmeprogramm für afghanische Flüchtlinge aufsetzen will. Heute erklärte dazu Stefan Mayer, die rechte Hand von Seehofer, dass es falsch wäre, wenn man eine Aufnahmebereitschaft ins Schaufenster stellen würde. Mehr Zynismus und Menschenverachtung angesichts von hunderttausenden Menschen, die zur Zeit um ihr Leben fürchten müssen, geht kaum.

Nach dem angeblichen Fehler von 2015 hat Deutschland die Flüchtlingspolitik Horst Seehofer und der CSU überlassen. Ich sage hier, dass das ein großer Fehler war. Ich sage hier: Seehofer darf sich nicht wiederholen!

Das Desaster in Afghanistan, für das der Westen keine geringe Mitverantwortung trägt, birgt jetzt die Chance, manche Fehler von 2015 nicht zu wiederholen. Eine vernünftige Flüchtlingspolitik ist möglich.

Eine an der Genfer Flüchtlingskonvention und der Internationalen Erklärung der Menschenrechte orientierten Flüchtlingspolitik ist möglich.

Ich möchte hier die flüchtlingspolitischen Forderungen, die aufgrund des Afghanistan-Desasters anstehen, kurz skizzieren:

1. Noch viel mehr Menschen müssen aus Afghanistan rausgeholt und in Sicherheit gebracht werden. Das kann in den Nachbarstaaten sein, wenn dort für vernünftige und menschenwürdige Aufnahmebedingungen gesorgt wird. Das kann aber genauso über internationale und nationale Aufnahmeprogramme geschehen. Es ist eine Schande für
Deutschland, wenn ein armes Land wie Albanien bereits die Aufnahme von 6.000 Afghanen erklärt hat, ein Land wie Deutschland aber bereits erklärt, dass man genau das nicht wolle.

Es ist gut, dass die Bundesregierung nach dem Ende der Evakuierungsflüge Anstrengungen unternimmt, damit auch in der Zukunft viele weitere Menschen, die als sogenannte Ortskräfte für die Bundeswehr oder deutsche Organisationen gearbeitet haben, aus Afghanistan rausgeholt werden können. Das ist aber nicht genug. Es gibt aktuell in Afghanistan hunderttausende Menschen, die um ihr Leben fürchten und die sich aus Angst vor den Taliban verstecken. Und es droht die Gefahr, dass es bald hunderttausende Afghanen gibt, denen der Hungertod droht.

Für all diese Menschen muss die sogenannte Weltgemeinschaft dafür sorgen, dass die Grenzen zu den Nachbarstaaten offen bleiben, dass es sichere Fluchtwege gibt, dass weiter evakuiert wird, dass Flüchtlinge Zugang finden zu den Auslandsbüros des UNHCR und dass über den UNHCR eine große Zahl von Menschen in aufnahmebereite Länder ausgeflogen werden können.

Wir haben in den letzten Wochen über 50 Anträge gestellt für Familienangehörige von in Tübingen und der Region lebenden afghanischen Flüchtlingen. Alle diese Familienangehörigen haben in irgendeiner Weise mit westlichen Truppen oder amerikanischen oder deutschen Organisationen zusammengearbeitet. Alle diese Menschen sind in unterschiedlicher Weise aktuell mit dem Leben bedroht, weil sie die
Rache der Taliban fürchten und zum Teil von denen auch schon aufgespürt wurden. Unter diesen Angehörigen sind viele junge Frauen dabei, bei denen die Gefahr besteht, dass sie von Taliban verschleppt und zwangsverheiratet werden. Die wenigsten allerdings hatten einen direkten Arbeitsvertrag von der Bundeswehr, der GIZ oder so. Wir wollen, dass auch solchen Leuten geholfen wird. Nach dem Ende der Evakuierungsflüge befürchten wir, dass all diese Anträge im Papierkorb von Heiko Maas landen. Damit werden wir uns aber nicht abfinden.

2. Wir wollen jetzt von der baden-württembergischen Landesregierung, dass sie ein eigenständiges Aufnahmeprogramm für afghanische Flüchtlinge aufsetzt. Für Ortskräfte und für andere Schutzbedürftige. Hier fehlt noch eine ganz klare Positionierung der Grünen, die diese Regierung führen.

3. Das Desaster in Afghanistan bietet jetzt die Chance, dass tausende von falschen Asylentscheidungen der letzten Jahre korrigiert werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in den letzten Jahren in tausenden von Fällen abgestritten, dass in Afghanistan eine Kriegssituation herrscht und hat tausende von Asylsuchenden abgelehnt statt ihnen einen Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz zu erteilen. Stets wurde in diesen Entscheidungen behauptet, dass es sichere Gebiete in Afghanistan gebe. Trotz unzähliger seriöser Berichte über die tausenden zivilen Opfer dieses sogenannten Bürgerkriegs erhielten viele, auch von den Verwaltungsgerichten, nur ein sogenanntes Abschiebungsverbot wegen der katastrophalen humanitären Situation im Land. Ich sage hier: Alle falschen Asylentscheidungen müssen korrigiert werden. Alle Geflüchteten aus Afghanistan brauchen einen sicheren Schutzstatus und ein gesichertes Bleiberecht in Deutschland.

4. Mit dieser Asylpolitik wurden vielen afghanischen Geflüchteten auch Rechte verwehrt, unter anderem das Recht auf Familiennachzug. Viele afghanische Geflüchtete hätten ihre Angehörigen längst in Sicherheit bringen können, wenn sie nicht immer noch auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten müssten oder wenn sie einen angemessenen
Schutzstatus erhalten hätten. Ich sage deshalb: Es braucht jetzt schnelle Entscheidungen über noch anhängige Asylanträge und großzügige Erleichterungen beim Familiennachzug.

5. Und zu guter Letzt: Deutschland muss Abschiebungen nach Afghanistan dauerhaft unterlassen. Es ist eine Schande, dass Herr Seehofer noch zu einem Zeitpunkt nach Afghanistan abschieben wollte als die Taliban bereits vor Kabul standen – und niemand ihn daran gehindert hat. Am 8. Juni haben wir hier in Tübingen noch eine Protestaktion
gemeinsam mit afghanischen Geflüchteten gegen die Abschiebungen nach Afghanistan in der Wilhelm-Keil-Straße durchgeführt. Das hat damals so gut wie niemanden interessiert, auch nicht das Schwäbische Tagblatt. Das gehört auch zur Wahrheit dazu.

Seehofer darf sich nicht wiederholen – das heißt auch: Nie wieder Abschiebungen nach Afghanistan!

Ich habe Zweifel, ob derartige Forderungen überhaupt gehört werden. Das sind aber keine spinnerten Ideen, sondern realpolitisch umsetzbare Maßnahmen. Ich möchte daher zum Abschluss aufrufen, die Petition des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg mit dem Titel „Solidarität mit Afghan*innen: Humanitäre Aufnahme und sichere Bleibeperspektiven jetzt!“ zu unterschreiben. Bisher haben 7.700 Menschen unterschrieben, das sind etwa 0,001 Prozent der Bevölkerung in Baden-Württemberg.

Ich war vor zwei Wochen in Stuttgart bei der Demonstration für die Menschen in Afghanistan zusammen mit etwa dreißig Afghaninnen und Afghanen aus der Region und ungefähr 5 Biodeutschen, das nur am Rande erwähnt, es hätten mehr sein können. Bei dieser Demo hatten wir auch dieses Schild hier dabei. Eine Mitdemonstrantin ist deswegen sogar vom SWR-Fernsehen interviewt worden und es wurde sogar ein halber Satz im Fernsehen gebracht, aber das Schild hier haben sie sich nicht getraut, im
Fernsehen zu zeigen.

Deswegen will ich dieses Schild hier bei dieser Gelegenheit mal etwas näher erklären. Es spielt natürlich auf den Spruch „2015 darf sich nicht wiederholen“ an. Denken wir mal kurz gemeinsam nach: Was ist denn 2015 passiert? Für eine kurze Zeit haben die deutsche
und die österreichische Regierung die Mauern der Festung Europa geöffnet und haben eine große Zahl von Flüchtlingen in die Europäische Union reingelassen. Anders formuliert: Für eine kurze Zeit haben die mit reichsten Länder dieser Welt, die alle die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben haben und die die Menschenrechte vor sich hertragen, es tatsächlich zugelassen, dass das schon in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte verbriefte Recht darauf, in einem Zufluchtsland einen Asylantrag zu stellen, tatsächlich zugelassen wurde. Für eine kurze Zeit. Dann kam Seehofer und das Asylpaket I und II und das Geordnete Rückkehrgesetz und die Migration als Mutter aller Probleme.

Und was passiert aktuell im Jahr 2021? 40 Jahre lang hat sich auch Deutschland an der Produktion von Fluchtursachen in Afghanistan beteiligt und es fällt unseren Herrschenden fast nichts anderes dazu ein als die weitere Bekämpfung von Flüchtlingen zu organisieren.

Andreas Linder
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Friedensplenum/ Antikriegsbündnis Tübingen e.V.

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