"Ich baue nur noch auf die Deserteure." (1)

Dokumentiert: Die Rede von Susa Hagelberg für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Tübingen-Mössingen auf der Kundgebung zum 77. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg in Tübingen am 8. Mai 2022:

Ich spreche heute für die VVN-BdA - Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, die 1947 von Widerstandskämpfer*innen und NS-Verfolgten gegründet wurde. Der Verein hält das Gedenken an die Naziverbrechen und ihre Opfer wach, benennt diejenigen, die niemals für ihre Verbrechen zu Rechenschaft gezogen wurden, klärt auf und kämpft gegen den in unserer Gesellschaft wieder erstarkten gefährlichen Neofaschismus.

Am 8.5. vorletzten Jahres stand ich während des ersten Corona-Lockdowns im Rahmen einer kleinen angemeldeten Kundgebung auf dem „Platz des unbekannten Deserteurs“ im französischen Viertel in Tübingen und erinnerte an das Kriegsende als Tag der Befreiung. Der Platz erhielt diesen Namen im bereits 2010, weil laut Augenzeugenberichten wenige Wochen vor Kriegsende mehrere Männer im Wald hinter dem "Französischen Viertel" als Deserteure hingerichtet wurden. Diese Opfer des Naziregimes sollten gewürdigt und ihr sinnloser Tod nicht vergessen werden.

Erst 2020 wurden vom Heimatgeschichtsforscher Udo Grausam und Tübinger Stadtarchivar Udo Rauch die Namen und Lebenswege der bislang unbekannten Deserteure herausgefunden. Angehörige kamen aus diesem Anlass zur Gedenkfeier 2020. Letztes Jahr konnte am 8.5. 2021 ein Schild mit den Namen der erschossenen Deserteure enthüllt werden:

Alfred Johann Geier (* 13. April 1924 in Pfullendorf - † 7. Februar 1945 in Tübingen), Metzger aus Stockach (Baden). Laut Chronik des damaligen Standortpfarrers Weikmann war er „ein 21jähr. Metzgergeselle, der - obwohl er schon das Verwundetenabzeichen trug - sich eine kleine Verstümmelung an der Hand beigebracht hatte." Um nicht mehr in den Krieg ziehen zu müssen.

Johannes Gustav Tafel (* 2. September 1908 in Ehningen, Kreis Böblingen - † 7. Februar 1945 in Tübingen), ein Maschinenarbeiter aus Ehningen (Kreis Böblingen). Hatte im Elsass in einem Maschinengewehr-Bataillon 39, gekämpft. Er war nicht Mitglied in der NSDAP. Er hinterließ eine Frau und zwei kleine Söhne von 5 und 7 Jahren und wurde mit 37 Jahren ermordet.

Auch heute, am 8.5.2022, möchte ich über Kriegsdienstverweigerung sprechen.

Deserteure gibt es auch im Ukraine Krieg. Der Verein connection e.V. unterstützt international Kriegsdienstverweigerer und Deserteure
(22.04.2022). Nach seiner Recherche gibt es bisher keine verlässlichen Zahlen über Desertion und Kriegsdienstverweigerung aus Russland, Belarus und der Ukraine.

Russland: Viele russische Oppositionelle und Militärdienstpflichtige flüchten in Staaten wie Georgien, Serbien oder die Türkei. Dort benötigen sie zur Einreise kein Visum. Es liegen keine offiziellen Zahlen über die Einreise wehrpflichtiger Männer vor, ihre Zahl dürfte aber in die Tausende gehen.

Belarus: Die in Litauen ansässige belarussische Organisation Nash Dom nennt am 14. April 2022 ca. 2.000 belarussische sogenannte Millitärdienstentzieher, die nach Litauen gekommen seien. Insgesamt gäbe es nach ihrer Einschätzung rund 20.000 Militärdienstentzieher, die Belarus verlassen haben.

Ukraine: Die moldawische Regierung erklärte am 10. April 2022, dass seit Ende Februar über 1.000 ukrainische Männer die Grenze illegal überquert hätten, weitere 2.000 seien legal eingereist. Die große Mehrheit von ihnen beantragte in Moldawien Asyl.

Es gibt also eine Reihe von ukrainischen Militärdienstpflichtigen, die das Land verlassen haben oder verlassen wollen. Wer es in die Europäische Union geschafft hat, erhält hier wie alle anderen Flüchtlinge aus der Ukraine einen befristeten humanitären Aufenthalt.

Connection e.V. unterstützt konkret mit Beratungen, Informationen, Hilfe bei Asylverfahren und sind solidarisch mit allen, die auf welcher Seite auch immer gegen den Krieg aufstehen, zivilen Widerstand leisten und das sofortige Ende des Krieges einfordern.

Deserteure zu würdigen war nie gerne gesehen. Nicht 2010 bei der Benennung des Platzes des unbekannten Deserteurs, und nicht heute, inmitten des Ukrainekrieges. Dennoch sollten wir diese Menschen, die bei der Kriegslogik nicht mitmachen wollen, aus ganzem Herzen unterstützen.

Nun zu einem weiteren Thema das insbesondere die VVN vorantreibt.
Wir setzen uns dafür ein, dass der 8. Mai als Tag der Befreiung vom Krieg und Faschismus ein Feiertag wird. So dass in Deutschland, wie in anderen europäischen Ländern auch, die positive Kraft des Kriegendes hervorgehoben wird und dieser Tag nicht von der breiten Öffentlichkeit wie bisher unbemerkt bleibt.

Die im letzten Jahr verstorbene Esther Bejarano war Ehrenvorsitzende der VVN-BdA und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der BRD e.V. Sie überlebte als Mitglied des „Mädchenorchesters“ das deutsche Vernichtungslager Auschwitz und entkam vor 77 Jahren auf dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ-Ravensbrück der SS. Am 10. Juli 2021 ist Esther Bejarano gestorben. Gemeinsam mit der VVN hatte sie eine Petition gestartet, um den 8. Mai als Feiertag einzufordern.

Sie schrieb in einem offenen Brief am 26. Januar 2020 „an die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen“:
„Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes.“

Vor wenigen Tagen wurde eine Petition zur Feier und Verankerung des 8. Mai in der Öffentlichkeit an den Thüringer Ministerpräsidenten und derzeitigen Bundesratspräsidenten Bodo Ramelow übergeben, der sie gerne angenommen hat und angab, bei seinen Kolleg*innen, den Ministerpräsident*innen der anderen Bundesländer, dafür werben zu wollen.

Die Lehren des 8. Mai umzusetzen, bedeutet für die VVN
• Geflüchtete und Kriegsdienstentzieher in Deutschland aufzunehmen
• die Logik des Militärischen zu durchbrechen und Waffenexporte zu verhindern
• das Treiben gewalttätiger und mordender Neonazis zu unterbinden und ihre Netzwerke in Polizei, Bundeswehr aufzudecken und aufzulösen
• AfD, NPD und ihre Verbündeten aufzuhalten
• einzugreifen, wenn Jüdinnen und Juden, Muslime, Roma und Sinti und andere, die nicht in das Weltbild von Nazis passen, beleidigt und angegriffen werden
• die Diffamierung und Behinderung demokratischer und antifaschistischer Gruppen zu beenden.

Anmerkung:

(1) André Gide, Journal, 11. Mai 1941, zitiert nach Andersch, Alfred, Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht, Diogenes-Taschenbuch - ein sehr lesenswerter Bericht seiner Desertion im Juni 1944. Den Satz von Gide wählte Andersch als Motto seines Berichts.
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