Antikriegstag Tübingen 1.9.2022 - Wir dokumentieren die Rede von Christioph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung Tübingen e.V.:
Liebe Freundinnen und Freunde,
eigentlich sollte ich heute über etwas anderes sprechen, etwas erfreuliches, denn aktuell findet in Kassel das Aktionscamp Rheinmetall entwaffnen statt, gestern wurde dort schon ein Kriegs- in ein Deserteursdenkmal umgewidmet und morgen soll dort eines der größten Rüstungsunternehmen Deutschlands – eben Rheinmetall – blockiert werden, um den kriegerischen Normalzustand zu unterbrechen. Ich habe heute noch mit Leuten aus Tübingen telefoniert, die dort sind, die Stimmung ist gut und ich soll Grüße ausrichten.
Dazu gäbe es noch mehr, erfreuliches, zu berichten, aber leider muss ich – meine ich zu müssen – über ein anderes Thema sprechen und zwar über Geografie. Denn vor drei Tagen hat Kanzler Olaf Scholz an der Prager Karls-Universität eine Grundsatzrede gehalten und das war eine sehr geopolitische Rede. Sie trug den wenig einfallsreichen Titel: „Europa ist unsere Zukunft“. Europa aber, das ist kein Kontinent und auch nicht die „Wertegemeinschaft“ als das es uns immer verkauft wird, sondern lange schon eine Chiffre für deutsches Großmachtstreben. Ein Großmachtstreben, das die Welt bereits zwei mal in den Abgrund gerissen hat. Die Rede von Olaf Scholz ließt sich, wie der Auftakt zu einem dritten Anlauf und unverhohlen zeigt er letztlich seine Freude darüber, dass der russische Angriff auf die Ukraine für diese „Zeitenwende“ einen Anlass geschaffen hat.
Da heißt es z.B. (Zitat): „Die Erfahrung der vergangenen Monate zeigt doch: Blockaden lassen sich überwinden. Europäische Regeln lassen sich ändern – wenn nötig, auch im Eiltempo.“ Etwas früher schon heißt es (Zitat): „Die historischen Entscheidungen der vergangenen Monate haben uns diesem Ziel nähergebracht“. Welches Ziel ist gemeint: Das einer (wieder Zitat) „stärkeren, souveräneren, geopolitischen Europäischen Union ... einer Union, die ihren Platz in der Geschichte und Geographie des Kontinents kennt und stark und geschlossen in der Welt handelt“. Und kurz nachdem er – prinzipiell zurecht – den russischen Imperialismus gegeißelt hatte und den Versuch, Grenzen durch Gewalt zu verschieben, behauptet er: „die Ukraine, die Republik Moldau, perspektivisch auch Georgien und natürlich die sechs Staaten des Westlichen Balkans gehören zu uns, zum freien, demokratischen Teil Europas“. Da muss man doch ergänzen, das fünf der sechs Staaten des westlichen Balkans einst zu Jugoslawien gehört haben, ihre militärisch durchgesetzte Unabhängigkeit von Deutschland und der NATO anerkannt und letztlich militärisch abgesichert wurde, durch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO. Im Kosovo ist bis heute die Bundeswehr im Rahmen der NATO-Truppe KFOR stationiert, und aktuell kehrt die Bundeswehr nach Bosnien und Herzegowina zurück denn man wolle – so begründet das tagesschau.de (Zitat) „unbedingt verhindern, dass Moskau seinen Einfluss in der Region ausweitet“. Denn die Bevölkerung in mehreren dieser neuen Staaten ist tief gespalten oder wählt sogar mehrheitlich Parteien, die eher nach Moskau schielen, denn nach Brüssel.
Liebe Freundinnen und Freunde,
auch das ist und war eine imperialistische Politik der NATO und sie ist mitverantwortlich für die aktuelle Eskalation in der Ukraine. Wir haben all die Jahre diese imperialistische Politik abgelehnt und werden sie weiterhin ablehnen.
Aber, liebe Freundinnen und Freunde,
Olaf Scholz nimmt nun diese Eskalation zum Anlass, mit der Zeitenwende die Parole auszugeben, dass „die EU weiter in Richtung Osten“ wachsen soll. Eine EU, für die Scholz zugleich fordert, das Prinzip der Einstimmigkeit in der gemeinsamen Außenpolitik aufzugeben, um Deutschlands Einfluss weiter auszubauen. Dem dient auch die Zeitenwende in der Rüstungspolitik, das 100 Mrd. Sondervermögen für Bundeswehr und Rüstung. Erklärtes Ziel des Sondervermögens ist es, Deutschland zur größten Militärmacht der Europäischen Union werden, Zitat Olaf Scholz: "Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato verfügen". Liebe Freundinnen und Freunde, das ist nicht die Erfolgsmeldung, als die sie uns die Presse verkauft hat, das ist eine Drohung, eine ganz finstere Drohung, der wir uns entschieden entgegenstellen müssen und werden, so wie morgen die Leute bei Rheinmetall Entwaffnen in Kassel!
Liebe Freundinnen und Freunde,
Das Sondervermögen soll auch genutzt werden, um in Deutschland schnell neue und hochmoderne Waffensysteme zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Und auch damit ist Osteuropa gemeint, wo viele Staaten nun ihre alten Sowjetbestände an die Ukraine geliefert haben und bald viele viele neue Panzer und Artillerie nachkaufen werden. Und Scholz hat in Prag angekündigt, (Zitat): „in Deutschland in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere Luftverteidigung investieren. Das Zitat geht weiter: „Alle diese Fähigkeiten werden im NATO-Rahmen einsetzbar sein. Und zugleich wird Deutschland diese zukünftige Luftverteidigung von Beginn an so ausgestalten, dass sich daran auch unsere europäischen Nachbarn beteiligen können, wenn das gewünscht wird – etwa Polen, Balten, Niederländer, Tschechen, Slowaken oder unsere skandinavischen Partner“. Deutschland will Europas größte Rüstungs- und Militärmacht werden und künftig andere Länder unter seinen Raketenschirm nehmen, deren Militär ausrüsten und ihre Außenpolitik bestimmen. Liebe Freundinnen und Freunde, das wird nicht lange gut gehen und dem werden wir uns widersetzen, u.a. am dezentralen bundesweiten Aktionstag am ersten Oktober mit einer großen Demo in Stuttgart.
Liebe Freundinnen und Freunde,
in diesem Zusammenhang warne ich auch vor der allzu leichtfertigen Übernahme von geografischen, letztlich geopolitischen Formulierung, nach denen aktuell „mitten in Europa“ oder „im Herzen Europas“ ein Krieg tobe. Wenn wir die Ukraine als Herz Europas definieren, machen wir uns zu ideologischen Steigbügelhaltern eines deutschen Dominanzanspruchs über Osteuropa und wir sollten uns fragen, was in dieser geografischen Vorstellung eigentlich das riesige Russland ist: Auch ein Teil Europas, der früher oder später, „integriert“ werden soll, so wie der westliche Balkan?
Liebe Freundinnen und Freunde,
gut, dass wir heute hier sind, beim Antikriegstag 2022. Es ist ein Antikriegstag in schwierigen Zeiten, denn zumindest in Deutschland, in Teilen Europas, herrscht Kriegsbegeisterung. Zumindest in der veröffentlichten Meinung ist das so, da wird weiterhin täglich die Forderung nach mehr Waffenlieferungen erhoben und das vermeintliche Zögern der Bundesregierung gegeißelt – als würden in der Ukraine nur Waffen vernichtet und damit nicht auch täglich Menschenleben. Ich persönlich nehme das allerdings nur als – nachlassenden – Widerhall einer Stimmung wahr, wie sie im Frühjahr herrschte und zwar damals tatsächlich in weiten Teilen der Bevölkerung, auf den Straßen und Plätzen, an den Stammtischen und bei Familienfesten. Ich fühlte mich damals an das sog. „Augusterlebnis“ erinnert, definiert von Wikipedia aktuell durch die „oft als ‚begeistert‘ oder ‚euphorisch‘ beschriebene nationalistische Stimmung weiter Kreise der Bevölkerung des Deutschen Reiches im August 1914, dem Beginn des Ersten Weltkriegs“. Es herrschte damals tatsächliche Kriegsbegeisterung, es gab Massenkundgebungen, begeisterte Reden, Fahnen wurden geschwungen und Soldaten rekrutiert für einen Krieg, in dem man sich des dessen schnellen und entschiedenen Sieges sicher war und sicher war, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch im Februar/März diesen Jahres wurden Fahnen geschwenkt, unter dem Jubel der Massen vom Feind geredet und dessen Vernichtung beschworen und am Rande vermeintlicher „Friedenskundgebungen“ Geld gesammelt und Rekrutierung betrieben für die ukrainische Armee. Es wurden russische Produkte aus den Regalen genommen, Wissenschafts- und Kulturkooperationen abgebrochen und russische Menschen von Veranstaltungen und Örtlichkeiten ausgeschlossen – als Opernsänger oder Kneipenbesucherinnen. Und es wurde Stimmung gemacht, heftig Stimmung gemacht gegen alle Stimmen, die zur Zurückhaltung mahnten, Verhandlungen forderten und Frieden wollten.
Liebe Freundinnen und Freunde,
diese Tage dürfen wir nicht vergessen. Sie mahnen uns, wie schnell es gehen kann und wie anfällig viele sind für den nationalistischen Taumel, die Kriegsbegeisterung und das militärische Männlichkeits-Ideal, dem aktuell unter dem paradoxen Schlagwort der „feministischen Außenpolitik“ auch hierzulande gehuldigt wird: „Liefert uns Waffen und wir werden für Euch kämpfen“! - Was für ein machistisch-autöritärer Wahnsinn, der uns da alltäglich, öffentlich-rechtlich als „Verteidigung der freien Welt“ gepredigt wird.
Liebe Leute,
das Augusterlebnis erfasste damals, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, auch viele Intellektuelle, progressive und im Prinzip links denkende Menschen. Viele haben sich später dafür geschämt, oder besser: bereut und das aufgearbeitet. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass wir heute verstehen können oder zumindest verstehen könnTen, was vor sich geht, welches Eskalationspotential in Nationalismus, Krieg und Kriegsbegeisterung steckt, wenn es von Eliten und Medien geschürt wird – auch und gerade, wenn es unter der Chiffre „Europa“ daherkommt. Und damit sind wir beim Ersten September und der deutschen Friedensbewegung, die ja seit Jahren und Jahrzehnten von verschiedenen Seiten totgesagt wird. Die Friedensbewegung hat – zugleich verunsichert und unbeirrt, unter heftigen Anfeindungen – am 8. Mai, um Ostern, zum Jahrestag der Atombombenabwürfe demonstriert und für heute mobilisiert.
Liebe Leute,
die wenigen Leute von der IMI sind heute, das habe ich mal für eine kleine Mitteilung auf unserer Homepage nur für die Region zusammengetragen, alleine hier, in Heilbronn und Kirchheim/Teck, Schwäbisch Hall aktiv auf Veranstaltungen, die jährlich stattfinden und auch in gemütlicheren Zeiten stattfanden, als der Krieg noch irgendwie weit weg – aber doch z.B. in Libyen, ebenso nahe wie jetzt in der Ukraine und eindeutig von der NATO ausgelöst – getobt hat. Das ist eine Bewegung. Sie hat Jahrzehnte überdauert, sicherlich auch Fehler gemacht und aber auch daraus gelernt, Erfahrung angesammelt. Immer – ob es gerade populär war oder nicht. Und wir werden das weiter tun, solange Deutschland Soldaten ins Ausland schickt, weltweit Waffen verkauft und verschenkt, im Rahmen von EU und NATO aufrüstet und sich an Kriegen beteiligt. Das wird Bündnisse erfordern und tw. schwierige Kompromisse – die wir auf der Basis eines antifaschistischen Grundkonses allerdings tragen und wagen werden müssen.
Zum Weiterlesen:
https://www.imi-online.de/2022/09/02/europa-chiffre-fuer-deutsches-grossmachtstreben/
friedensplenum - 2. Sep, 22:26